Was ich vergessen habe

KURZGESCHICHTEN

10/27/20252 min read

Was ich vergessen habe

Der Geruch von gebrannten Mandeln und Glühwein lag schwer in der kalten Berliner Dezemberluft. Elias hasste Weihnachtsmärkte, aber seine kleine Nichte hatte ihn dazu verdonnert, einen „zauberhaften“ Abend zu verbringen. Er stand, umgeben von dichtem Gedränge und lautem Festtagsjubel, an einem Stand mit handgeschnitzten Krippenfiguren.

Er war gerade dabei, die perfekte Missmut-Grimasse aufzusetzen, als er die Gestalt bemerkte.

Mitten im Lichtermeer, direkt neben dem Karussell, stand ein Mann, der so deplatziert wirkte, dass Elias sofort von ihm fasziniert war. Er war hochgewachsen und trug einen eleganten, tiefschwarzen Mantel, der im Gegensatz zur bunten Daunenjacken-Masse stand. Aber das Ungewöhnliche war nicht sein Mantel, sondern sein Hut.

Es war ein hoher Zylinder, der nicht altmodisch, sondern zeitlos wirkte. Und aus der Krempe des Hutes, wo sonst ein Band sein sollte, schien ein feiner, silbriger Staub zu rieseln, der in der Dunkelheit geheimnisvoll funkelte.

Der Mann lächelte. Es war kein festliches Lächeln, sondern eines, das Elias an ferne Sterne und tiefes Wissen denken ließ. Er hielt eine kleine, leere Holzkiste in den Händen.

"Schönen Abend", sagte der Mann mit einer Stimme, die klang, als würde sie selten benutzt, und reichte Elias die Kiste.

Elias nahm sie zögernd. "Äh, danke? Was ist das?"

"Ein Geschenk", erwiderte der Fremde. "Es ist für das, was Sie am meisten vergessen haben."

Bevor Elias nachfragen konnte, deutete der Zylinderhut-Träger auf Elias' Nichte, die gerade lachend eine Runde auf dem Karussell drehte. "Sie ist sehr gut darin, sich zu erinnern."

Dann geschah es: Der Mann drehte sich zur Seite, blickte kurz zum Himmel, der plötzlich heller schien, und verschwand. Nicht schnell weggelaufen, nicht hinter einem Stand versteckt. Er war einfach weg, als wäre er nur ein Flickern des Weihnachtslichts gewesen.

Elias starrte auf die Stelle. Er öffnete die kleine, leere Holzkiste. Was Sie am meisten vergessen haben. Er dachte an die Hektik, den Stress, die Abneigung gegen diesen Ort. Er dachte an die kindliche Freude seiner Nichte.

In diesem Moment drehte sich die Nichte vom Karussell zu ihm um, ihre Augen funkelten. "Onkel Elias! War das nicht toll?"

Elias lächelte, ein echtes Lächeln, das er fast vergessen hatte.

Als er in die leere Kiste blickte, wusste er: Sie war nicht leer. Sie enthielt die Erlaubnis, wieder Freude an einem Ort zu empfinden, der ihm fremd geworden war. Und im Morgengrauen fand er in seiner Manteltasche einen einzelnen, winzigen Partikel des silbrigen Staubes. Ein Gruß vom Hut des Unbekannten, eine Erinnerung an die Magie, die manchmal selbst auf den überfülltesten Weihnachtsmärkten zu finden ist.