Die Letzte Kluft des Alchemisten

KURZGESCHICHTEN

10/27/20253 min read

Die Letzte Kluft des Alchemisten

Professor Alistair Thorne, ein Geologe, dessen Karriere ein einziges, unermüdliches Streben nach dem Unerklärlichen war, hockte tief in einer Mine in den Anden. Er suchte nicht nach Erz, sondern nach einer Legende: dem „Tresor des Alchemisten“, einem Ort, an dem drei elementare Kräfte in Form von Edelsteinen ruhen sollten.

Nach Wochen des Grabens durch taubes Gestein durchbrach sein Spaten einen versteckten Schacht. Dahinter lag eine kleine, in uralte Runen gemeißelte Kammer. Auf einem Steinsockel lagen drei rohe Steine, die die Dunkelheit verschlangen und das Licht ausspuckten:

  1. Ein Smaragd, so tief grün, dass er wie das konzentrierte Licht eines Urwaldes wirkte.

  2. Ein Saphir, dessen Azurblau die Farbe der entferntesten, kältesten Sterne besaß.

  3. Ein Rubin, glühend rot, als hätte er das Feuer eines Vulkans in sich gefangen.

Alistair, der rationale Wissenschaftler, fühlte, wie seine Handfläche kribbelte. Er wusste, dies waren keine gewöhnlichen Minerale. Eine Inschrift unter den Steinen besagte: „Drei Wünsche gewährt, durch die drei Herzen gefeit. Doch jeder Stein hält die Wahrheit der Ewigkeit.“

Er nahm den Smaragd in die Hand, das Symbol der Hoffnung. Im selben Moment wünschte er, ohne nachzudenken, was er sich am meisten ersehnte: die endgültige Anerkennung seiner Arbeit.

Sofort spürte er, wie die kühle Essenz des Steins seine Hand durchströmte. Als er aufwachte, lag er wieder in seiner Berghütte. Auf seinem Tisch lag eine E-Mail der Königlichen Akademie: Ihm wurde der Nobelpreis für Geologie verliehen.

Alistair war am Ziel. Er war berühmt, geehrt. Aber als er den Pokal hielt, spürte er nur eine befremdliche Leere. Der Wunsch war erfüllt, doch die Suche, das wahre Lebenselixier, war vorbei. Der Smaragd hatte ihm die Wahrheit der Hoffnung gezeigt: Sie liegt nicht im Ergebnis, sondern im Streben.

Enttäuscht griff er nach dem Saphir, dem Symbol der Weisheit. Er wünschte sich, die gesamte Vergangenheit und Zukunft der Erde zu verstehen.

Das tiefe Blau blitzte auf. Alistair wurde von einer Flut von Wissen überschwemmt: die Geburt der Kontinente, das Auf und Ab der Zivilisationen, die Kälte des Universums. Er wusste alles. Doch dieses universelle Wissen war ein Schmerz. Er sah die Vergeblichkeit aller menschlichen Anstrengungen, die Unvermeidlichkeit des Endes. Der Saphir hatte ihm die Wahrheit der Weisheit enthüllt: Sie ist eine Bürde, die die Freude an der Gegenwart tötet.

Zwei Wünsche waren verschwendet, die Erkenntnisse schmerzhaft. Er hielt den Rubin, das Symbol der Liebe, in der Hand. Das Rot pulsierte warm gegen seine Haut. Er hätte sich die Rückkehr seiner verstorbenen Frau wünschen können, ewiges Glück, oder gar die Umkehr der Zeit.

Alistair blickte auf den Rubin. Er sah die funkelnde, gefährliche Schönheit der Wünsche, die ihm Ruhm und allumfassendes Wissen gebracht hatten, aber nicht den Frieden.

Er schloss die Augen und wünschte sich nichts.

Er öffnete seine Hand und ließ den Rubin sanft auf den Steinsockel zurückfallen. In diesem Augenblick der Verweigerung des letzten, größten Wunsches, spürte er zum ersten Mal seit Jahren eine tiefe Stille. Das rote Feuer des Rubins schien zu tanzen, aber es verlangte nichts von ihm.

Alistair drehte sich um und verließ die Kammer. Er nahm keinen der Steine mit. Er ließ den Smaragd, den Saphir und den Rubin zurück in der Dunkelheit, als Zeugen seiner tiefsten Erkenntnis:

Das größte Geschenk der Kräfte war nicht das Gewähren von Wünschen, sondern die Wahrheit der Liebe: Sie ist die einzige Kraft, die nicht erbeten oder erzwungen werden kann. Sie ist bereits da, sobald man aufhört, sie zu suchen.

Er stieg aus dem Schacht und sah den Sonnenuntergang über den Anden. Er hatte seinen Ruhm verloren und seine Weisheit bereut, aber er hatte etwas viel Selteneres gefunden: Genügsamkeit. Er hatte die Kluft des Alchemisten mit nichts als sich selbst verlassen – und das war genug.