Die Ebbe der Stille

KURZGESCHICHTEN

10/27/20252 min read

Die Ebbe der Stille

Eliza lebte auf einer kleinen Insel im Nordatlantik, deren Existenz durch nichts als das unaufhörliche Brüllen des Meeres definiert war. Eines Dienstagmorgens, kurz vor Sonnenaufgang, geschah jedoch das Unmögliche: Das Meer verstummte.

Es war keine Stille, wie man sie in einem Wald oder einer Kirche erlebt. Es war eine Abwesenheit. Die gewaltige, omnipräsente Geräuschkulisse, die seit der Geburt ihrer Urgroßeltern die Insel umgab, war erloschen. Die Wellen, die seit jeher gegen die Klippen schlugen, zogen sich nicht nur zurück, sie hörten auf zu existieren. Die Ebbe hatte das Wasser auf einen fernen Horizont gezogen, und der Meeresgrund lag bloß: eine unendliche, feuchte, unbekannte Ebene aus schwarzen Felsen, Tang und den Skeletten versunkener Schiffe.

Eliza trat aus ihrem Cottage und spürte sofort, wie die Abwesenheit des Geräusches eine Leere in ihr Inneres zog. Die Stille war so absolut, dass sie das scharfe Pfeifen des Windes in ihren Ohren bemerkte, das Knistern des Grases unter ihren Füßen – Geräusche, die das Meer ihr jahrzehntelang verborgen hatte.

Die Dorfbewohner versammelten sich am Rand der Klippen, starrend auf die entblößte Tiefe. Sie redeten nicht. Ihre Gesichter spiegelten keine Angst, sondern ein tiefes, existenzielles Unbehagen. Das Meer war ihre Zeit, ihr Takt, ihre Seele gewesen. Ohne es waren sie nur Körper auf einem Felsen.

Eliza stieg vorsichtig die schroffen Pfade hinunter zum freigelegten Meeresboden. Sie musste sehen. Sie lief über den nassen Sand, vorbei an Korallen, die niemals das Licht der Sonne gesehen hatten. Nach einer Weile erreichte sie das Gerippe eines alten Dampfschiffs, das der Ozean normalerweise wie ein Spielzeug verdeckt hielt.

Dort, im Schatten des Wracks, fand sie es: ein großes, glattes, graues Etwas. Es war ein Ei, fast so hoch wie sie selbst, aber nicht aus Stein, sondern aus einem Material, das warm auf ihrer Handfläche lag. Es pulsierte kaum merklich.

Als Eliza das Ei berührte, geschah keine Explosion, keine Magie. Stattdessen fühlte sie, wie die allgegenwärtige Leere in ihrem Kopf mit einer einzigen, klaren Information gefüllt wurde: Das Meer hat nur eine Pause eingelegt. Es hört nie auf zu sein, nur weil es sich zurückzieht.

In diesem Moment der tiefsten Stille verstand Eliza. Das Chaos und der Lärm ihres eigenen Lebens – die Ängste, die Sorgen, die ständigen Kämpfe – waren wie das Rauschen der Wellen gewesen. Sie hatten die darunterliegende, tiefere Wahrheit verdeckt. Die Stille der Ebbe enthüllte nicht das Ende der Welt, sondern den Grund, auf dem die Welt gebaut war.

Sie lächelte, ließ das Ei zurück und stieg den Weg zurück zur Insel.

Als die Sonne ihren Zenit erreichte, fühlte man es, bevor man es hörte: ein tiefes, kehliges Grollen vom Horizont. Langsam, majestätisch, unaufhaltsam kehrte das Wasser zurück.

Als die erste Welle sanft gegen die Klippen schlug, klang es für Eliza nicht mehr nach endlosem Lärm, sondern nach einem feierlichen Atemzug. Sie hatte das Herz der Stille gesehen und wusste nun, dass die größten Wahrheiten oft in den Momenten liegen, in denen alles, was man für wahr hielt, verschwindet. Sie hatte ihr eigenes inneres Meer neu kennengelernt.