Der erste Fund

KURZGESCHICHTEN

SMW

10/27/20252 min read

Der erste Fund

Die Sonne brach gerade erst über die schroffen Gipfel der Surselva, als Jona sich durch den steilen Schutt hochkämpfte. Die Luft war dünn und kalt, roch nach nassem Felsen und ewigem Eis. Jona, ein junger Strahler aus Disentis, war auf seiner ersten ernsthaften Expedition. Sein Großvater hatte ihm immer gesagt: "Der Berg schenkt dir nichts, Jona. Du musst es ihm abringen."

Er schlug seinen Pickel in eine kleine, unscheinbare Kluft unter einem überhängenden Felsen. Es war reiner Instinkt. Die Kluft sah aus wie jede andere – dunkel, nass, leer. Er verspürte bereits die übliche Enttäuschung, die nach Stunden des vergeblichen Suchens kam.

Doch dieses Mal war es anders.

Der Pickel traf nicht auf taubes Gestein, sondern auf einen Hohlraum. Als er vorsichtig mit der Kelle den Schutt beiseite räumte, spürte er einen kurzen, metallischen Schauer über seinen Rücken laufen. Er atmete flach.

Er leuchtete mit der Stirnlampe in die Höhlung. Der Strahl tanzte über eine Ansammlung von Dunkelheit, Feuchtigkeit und dann... Licht.

Es war, als hätte der Berg seine Schatzkammer geöffnet. In der Mitte der Druse, eingebettet in makellosen Felsen, funkelte ein einzelner Kristall. Er war fingerdick, perfekt hexagonal und strahlend klar, so rein, dass er das schwache Licht der Lampe in tausend winzige, eisige Blitze zerlegte.

Jona hielt den Atem an. Er kannte die gewaltigen Funde, die sein Großvater gemacht hatte, aber dieser eine Kristall, der ihn aus der Dunkelheit anfunkelte, war sein. Sein erster.

Vorsichtig, mit zitternden Händen, befreite er den Kristall mit einem kleinen Meißel. Die Spannung war fast unerträglich. Ein falscher Schlag, und er würde zerbrechen. Ein leises, knackendes Geräusch, und der Kristall löste sich.

Als Jona das Stück Quarz in seine Handfläche legte, fühlte er das kalte Gewicht und die perfekte Geometrie. Es war mehr als ein Mineral; es war ein eingefrorenes Stück Zeit, Millionen von Jahren unter dem Druck der Alpen entstanden.

Er schloss die Hand darum, fühlte die scharfen Kanten und blickte auf die riesige, majestätische Bergwelt um ihn herum. Der Schnee knirschte unter seinem Stiefel. Es war ein Gefühl, das er nie vergessen würde: das überwältigende Glück des Finders, die Bestätigung der Suche und die demütigende Erkenntnis, wie winzig der Mensch angesichts der Pracht der Berge ist.

Er hatte ihn gefunden. Sein Bergkristall. Der erste von vielen, wie er hoffte.